Gesammelte Werke
Millionen druckfrische Bücher landeten nach der Wende auf dem Müll.
Ihr Retter erinnert sich
Von Kerstin Decker
Bestimmt hatte er den Kleinbus damals schon, silbern, längst verblichene Baureihe. Der Pfarrer gehört zu den Menschen, die von einem Auto nicht viel verlangen. Dafür darf das Auto auch nichts vom Pfarrer verlangen. Putzen etwa. Kann sein, er hat die ganzen 15 Jahre nicht geputzt, seit dem Frühjahr 1991, als er die Strecke zum ersten Male fuhr. Von Katlenburg, Hessen, Vorharz, nach Plottendorf bei Leipzig. Dort soll ein riesiger Bücherfriedhof sein, hatte er gehört. Ein Friedhof eben gedruckter Bücher.
Das Loch im Zaun sah er gleich. Und trat schon beim nächsten Schritt auf Heinrich Mann, auf "Im Schlaraffenland". Martin Weskott, der Vielleser, der Bücher für ein Grundnahrungsmittel hält, sah sich um. Der Titel passte. Zehntausende, Hunderttausende Bücher, er brauchte nur zugreifen. Andere machten das auch gerade. Die meisten nahmen Landkarten und Bildbände wie der Holländer neben ihm. Und doch war sich der Pfarrer nicht sicher, ob dieser Himmel nicht in Wahrheit eine Hölle war.
"Im Schlaraffenland" war nicht mehr zu helfen, es hatte sich abwechselnd unter dem Mairegen und der Maisonne gewellt. Jetzt schimmelte es. Aber dort, Stefan Heym sah noch gut aus. "Stalin verlässt den Raum", politische Publizistik. So etwas kann doch eben erst erschienen sein, nach der Wende, dachte Weskott. Er hatte Recht. Das Buch war druckfrisch - ausgeliefert direkt auf den Müll. Martin Weskott hob den Stefan Heym auf. Der Pfarrer stieg über Goethe und über Friedrich II., er konnte es nicht vermeiden, Friedrich zu treten. Und dann sah er diesen kleinen lebensklugen Igel, Borstel war das. "Borstel als Detektiv", 1. Auflage 1990 Verlag Junge Welt Berlin / DDR. Borstel hatte einen festen Glanzpappdeckel, das schützte ein bisschen vor dem Mai, vor seiner Sonne und seinem Regen.
Nein, der Mai ist kein guter Monat für Bücher in Deutschland. 1933 brannte sie, 1991 verschimmelten sie, millionenfach im eben wieder vereinten Deutschland - man kann das nicht vergleichen, dachte Weskott, dachten viele wie er und verglichen es doch. Neubundesbürger sahen die Fotos von den druckfrischen Müllbücherbergen und begriffen, was eine Wegwerfgesellschaft ist. Was sie auch ist.
Katlenburg, der kleine hessische Vorharzort. Wir fahren durch die gelb- und weiß- und rotblühenden Landschaften hoch zur Klosterburg. Hier kamen genau vor 15 Jahren die ersten Bücher an. Hier oben zählt die Zeit in Jahrhunderten, hier ist alles alt, 900 Jahre die Mauern, 600 Jahre die Linden. Den Stefan Heym hatte Martin Weskott gleich mitgenommen, auch einen Band tschechischer Lyrik. Und das "ABC für den Feuerwehrmann" und den "Wissensspeicher Eisenbahn". Dann folgen noch fast 800000. Geholt mit anderen Katlenburgern am Wochenende, wenn der Hersteller des "Katlenburger Mineralwassers" seinen Lkw nicht brauchte. Im alten gotischen Klosterrefektorium entstand das wohl seltsamste Antiquariat Deutschlands, lauter druckfrische DDR-Müll-Bücher.
Martin Weskott mit schwarzer Schirmmütze und verwittertem Bart sitzt bei seinen alten Linden und weiß nicht recht, was er auf die Warum-Frage antworten soll. Warum landeten Millionen Bücher fast noch in der Geburtsstunde der deutschen Einheit auf dem Müll? Lauter unverkäufliche Literatur? Weskott hat das nie geglaubt. Es gab viele Gründe. Der zentrale Bücherauslieferer der DDR in Leipzig - ein Monopolbetrieb - hatte plötzlich niemanden mehr, an den er die hohen Auflagen ausliefern konnte. Denn wie es in den Ostkaufhallen von einem Tag auf den nächsten nur noch Westwaren gab, wollten auch die Ostbuchhändler nur noch Westbücher.
Beim Leipziger Kommissions- und Großbuchhandel, kurz LKG, wuchsen die gebundenen Papierberge. Dabei gab es so viele (West-)Firmen, die solche Lagerhallen dringend brauchten. Die mieten wollten oder kaufen. Für Westgeld! Also tat der Chef des LKG, ein Germanist, das Gebotene. Er räumte seine Lager frei und stellte die Bücher in den Regen. Es gab mehrere Deponien. Weskott kannte sie bald alle. Auf einer pflügten sie die Bücher unter die Erde. Der Geist, ausgesäht wie Samen? Oder aus Pietät richtigt beerdigt? Nein, man tat es nur, weil die vielen Bücherhaldenkletterer nervten.
Bald darauf schloss Martin Weskott immer sonntags nach dem Gottesdienst sein Klosterrefektorium auf, und jeder konnte gegen eine Spende an "Brot für die Welt" mitnehmen, was er fand. Später lud er die Autoren der Deponieliteratur zu Lesungen ein, die Müllliteraten. Christa Wolf und viele andere kamen nach Katlenburg, in den kleinen Vorharzort.
Eine wohl sortierte Bibliothek ist aus dem einstigen Klosterrefektorium nicht geworden. Aber Weskott weiß genau, wo was liegt. Über 300000 DDR-Bücher sind schon "verkauft", aber inzwischen bekommt Weskott von überall Bücher, Restauflagen von Verlagen sowieso. Schmale Gänge führen zwischen den Büchergebirgen hindurch. Der Pfarrer hebt "Flugzeuge und Hubschrauber der NVA 1956 - 1970" auf. Das lag, sagt er, zum Zerhäckseln neben dem "Ende einer Utopie", Erinnerungen an die Montagsdemos. Den Anblick wird er nie vergessen. Solche Eintracht stiftet nur die Schreddermaschine.
Weskott, der Germanist aus Leidenschaft. Er kennt Ostbücher, von denen man noch nie gehört hat. Viele hatte er schon vorm Ende der DDR gelesen. Dieser Pfarrer weiß viel mehr über DDR-Literatur als die meisten. Die Nach-Wende-Debatten über Christa Wolf und andere fand er beschämend. Die hatten genau die Deponietonlage, glaubt er. "Das hat abgefärbt". Er ist gerade zurück von einer Erlanger Tagung über "vergessene DDR-Literatur". Universitäten laden ihn, den Sachverständigen, oft ein. Und was haben wir vergessen, was wir nie hätten vergessen sollen? "Morisco" von Alfred Welim zum Beispiel, erklärt Weskott ohne Zögern, oder Klaus Poches "Der Zug hält nicht im Wartesaal". Dann fällt sein Blick auf die "Dieseltriebfahrzeuge". Eisenbahnerliteratur. Fast ausverkauft!, ruft Weskott sehr zufrieden und sucht die Seite mit der "Taigatrommel". Die Taigatrommel war ein besonders lautes sowjetisches Dieseltriebfahrzeug, daher der Name, sechsachsig.
Weskott weiß mindestens so viel über Dieseltriebfahrzeuge wie über die Seele an sich und in den Zeiten des Umbruchs. Denn er war sich lange nicht sicher, ob er, der Junge aus einer Bückeburger Eisenbahnerfamilie, wirklich Pfarrer werden solte oder nicht doch lieber Ingenieur. Aber das muss sich ja gar nicht ausschließen. Nicht einmal der Himmel gehört der Theologie allein. Er, Martin Weskott, war schon da. Er hat es mit der "Cassini"-Raumsonde schon bis zum Saturn geschafft. Und bis in die Londoner "Times" oder den "New Scientist". Dank der DDR-Müllliteratur. Ein Ingenieur vom Max-Planck-Institut für Sonnenfeldforschung ganz in der Nähe hatte bei ihm ein altes DDR-Physik-Fachbuch gefunden. Und da stand drin, wie man eine Fassumg macht aus Magnesiumsilikat. Eine Fassung, wie er sie brauchte für das Fotospektrometer der "Cassini"-Sonde.
Weskott lächelt. Vielleicht geht doch nichts für immer verloren. Das wäre dann eine andere Ökonomie. Wahrscheinlich die Ökonomie Gottes.