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Weitergeben statt wegwerfen

Der "Bücherpfarrer" Martin Weskott

Von Georg Gruber

Ein mittelalterliches Magazingebäude auf dem Burgberg in Katlenburg beherbergt heute tausende von Büchern. Gegen eine Spende können Interessierte die Bücher mitnehmen. Der evangelische Pfarrer Martin Weskott hat sie nach der Wende von Müllkippen aus den neuen Bundesländern gerettet. Bibliotheksbestände und ganze Jahresproduktionen von Ostverlagen landeten damals auf dem Müll.

Sonntagvormittag in Katlenburg. Die Kirche, 900 Jahre alt, liegt auf einer Anhöhe. 25 Kilometer waren es bis zur Zonengrenze. Martin Weskott ist seit 1979 evangelischer Pfarrer der Gemeinde. Ein bedächtiger Mann, mit grauem Vollbart und braunen Augen. Am Ende des Gottesdienstes gibt er jedem die Hand:

Weskott: Schönen Sonntag noch!
Frau: Ja, wir sehen uns vielleicht noch bei den Büchern.
Weskott: Die Bücher sind da drüben, ich komm dann auch gleich rüber.

... zum klösterlichenMagazingebäude, dort stapeln sich Bücher, übermannshoch, rund 50.000 auf 90 qm. Ein Bücherlabyrinth, durch das nur enge Gänge führen, die jederzeit einzustürzen drohen.

Weskott: Hier rechts vom Eingang sind Bücher aus Wendezeiten, da sind viele Bücher dabei, die vorher nicht veröffentlicht werden konnten, z. B. Stefan Heym, politische Publizistik, Aufsätze, dann hier auf der langen Theke sind dann Mehrfachexemplare Belletristik, da sind dann auch wieder viele Müllbücher dabei.

Müllbücher von Müllliteraten.

Weskott: Ein Roman von Gabriele Herzog, "Keine zeit für Beifall", über die Sprengung der Leipziger Universitätskirche 1968. ´84 sollte das Buch zum ersten Mal herauskommen, das war dann aus politischen Gründen nicht möglich, ´89 war dann auch nicht der richtige Zeitpunkt und dann ist es eben ´90 herausgekommen und gleich auf den Müll ausgeliefert worden.

wo das Buch verrottet wäre, hätte nicht Martin Weskott im Mai 1991n ein Foto in der "Süddeutschen Zeitung" gesehen, von einer Müllkippe in der Nähe von Leipzig,

Weskott: Die lagen dort, die Bücher zu Hunderttausenden, wie vom Miststreuer ausgespuckt.

Ganze Jahresproduktionen von Ostverlagen wanderten nach der Wende auf den Müll. Weil man glaubte, sie nicht mehr absetzen zu können. Ost-Ausgaben von Klassikern lagen neben Aufsätzen von Richard von Weizsäcker, der damals noch Bundespräsident war, und naturwissenschaftlichen Fachbüchern.

Weskott: Zum Teil auch schon aus Bibliotheken von voreiligen Neuerern aussortiert, Kinderbücher, "Das verschenkte Weinen" von Werner Heiduczek und weitere Kinderbücher.

Bücher auf den Müll zu werfen - für Pfarrer Weskott ein barbarischer Akt, der ihn traurig machte, den er nicht mit ansehen wollte. Er fuhr durch die neuen Bundesländer, oft begleitet von seinen beiden Söhnen, mit dem Laster eines Katlenburger Getränkelieferanten und sammelte auf, was da so achtlos entsorgt wurde.

Weskott: Man war ja der Meinung, man kann auf diese Art und Weise auch seine Biografie entsorgen, man stellt eben heute fest, wo viele damals ja auch schon hingewiesen haben, dass das nicht möglich ist und dass damit unter Umständen die Probleme eher noch multipliziert werden.

Zur DDR hatte Martin Weskott, geboren 1951, schon immer ein besonderes Verhältnis. Er wuchs im Westen auf, in Bückeburg in der Nähe von Hannover. Doch der Großvater lebte im Osten, in der Nähe von Erfurt, er war Pfarrer. Und sein Vorbild, durch ihn kam er zur Theologie, bei ihm verbrachte er als Kind fast alle seine Sommerferien, bis der großvater 1966 starb.

Weskott: Für mich war die Einheit ein Geschenk, ich konnte das Grab meines Großvaters wieder besuchen, aber man muss dann auch so ein Geschenk als eine Gabe wahrnehmen, an der man arbeitet und die man pflegt, und das versuchen wir im Grunde, durch diese Bücheraktion und durch das, was an Lesungen und Diskussionen stattfindet.

Katlenburg sei kein Ort für Ostalgiker. Die Bücher seien vielmehr wichtige Quellen zur deutsch-deutschen Geschichte und ein Mittel zur Verständigung. Viele Ost-Autoren seien zudem nach der Wende zu Unrecht in Vergessenheit geraten. Es habe vielmehr kritische Auseinandersetzung mit dem DDR-Alltag gegeben, als viele Westlerl auch die Literaturkritiker, glauben, das habe auch er erst gelernt durch die Bücher, die er auf dem Müll fand.

Weskott: Da sahen wir eine Möglichkeit, Brücken zu bauen und einen Zugang zu finden und das haben wir dann auch durch die Reihe "Müllliteraten lesen", Begegnungen mit Autoren, deren Bücher wir aus dem Müll gelesen haben, Oktober 1992 begonnen.

Christa Wolf, Volker Braun, Wolfgang Hilbig - rund 150 Autoren folgten seiner Einladung. Inzwischen bekommt der Pfarrer die Bücher geliefert, aus Ost und West, Restexemplare von Verlagen oder von Leuten, die bei sich zu Hause aussortieren. "Weitergeben statt wegwerfen" heißt die Aktion heute.

Interessenten kommen aus aller Welt oder schreiben ihm und bitten um Buchsendungen. Bücher aus Katlenburg sind heute in der öffentlichen Bibliothek von Shanghai, in der theologischen Fakultät in Belgrad, in Kindergärten, Deutschlehrer-Fortbildungsseminaren, Gymnasien, in mehr als 50 Institutionen weltweit. Der Erlös, insgesamt über 120.000 Euro, geht in Projekte von "Brot für die Welt": von Aidsprophylaxe in Afrika bis zur Rechtsberatung für Steinbrucharbeiterinnen in Indien.

Weskott: So, 20 Euro ...
Mann: Geb ich ihnen heute mal so eine Sammlermünze, das sind 10 Euro.
Weskott: Danke ...

Pfarrer, sagt Martin Weskott, sei er schon auch aus missionarischem Impuls geworden - aber nein, sagt er, er sei kein Weltverbesserer, das sei ihm zu klischeehaft.

Weskott: So, dann schönen Sonntag noch!
Mann: Ja, wünschen wir Ihnen auch, tschüss!