Der Bücherretter von Katlenburg
von A. Raetzer
Besuch in einem der kursiosesten deutschen Büchermagazine
Wenn einer dieser Türme umstürzt, bin ich verloren. Dieser Gedanke geht vermutlich beinahe jedem durch den Kopf, der in diesem Büchermagazin - zweifellos eines der kuriosesten der Republik - nach passender Lektüre sucht. Meterhohe Bücherstapel säumen die schmalen Gänge des papiernen Labyrinths, Regale biegen sich unter der Last von Folianten, Taschenbüchern, gebundenen Ausgaben und Partituren. Ort der Handlung ist das Magazingebäude der im westlichen Harzvorland gelegenen Katlenburg.
Von der Büchermüllhalde
800 Jahre alt ist das Gebäude, das seit 1991 Heimstatt ist für Bücher, die eigentlich gar nicht mehr existieren würden, wäre da nicht Martin Weskott. 1991 entdeckte Weskott, Pfarrer der St. Johannes-Kirchengemeinde in Katlenburg, in der .,Süddeutschen 7eitung" das Foto einer Büchermüllhalde. Mit seinem VW-Bus fuhr er nach Leipzig, sammelte die zu DDR-Zeiten gedruckten und in der Wendezeit ungeliebten Druckwerke ein und verfrachtete sie in das Magazin, das seither als Bücherscheune dient. Bis zu 700 000 Bände hat der ,.Bücherpfarrer" hier schon gelagert. "Jedes Buch hat seine Geschichte". sagt Martin Weskott. Viele dieser Geschichten weiß er den Besuchern zu erzählen, die sonntags nach dem Gottesdienst oder zu vereinbarten Terminen zum Stöbern und Staunen nach Katlenburg kommen. Rund 400 000 Bücher hat Martin Weskott im Laufe der Jahre weitergegeben. Büchereien, Jugendeinrichtungen. Schulen und Universitäten im In- und Ausland waren und sind dankbare Abnehmer. "Auch Privatleute kommen von überall her, selbst aus den USA, aus Holland und Belgien", erzählt Weskott. der auch Saarländer zu seinen Stammkunden zählt. Der Erlös seines Bücherverkaufs kommt der Hilfsorganisation Brot zu Gute. 120 000 Euro kamen bisher nach Auskunft Weskotts für den guten Zweck zusammen. Martin Weskott, selbst seit jeher an Literatur interessiert, geht es jedoch nicht nur darum, mit Hilfe ausrangierter Bücher Spenden zu sammeln. Bücher, so ist am schwarzen Brett am Eingangstor der Scheune zu lesen. solle man "weitergeben statt wegzuwerfen".
Was die "Times" interessiert
Dass diese Form des Bewahrens keinesfalls etwas mit rührseligem Festhalten an Veraltetem zu tun hat, son dern vielmehr die Chance bietet, aus dem Wissensfundus früherer Generationen Erkenntnisse für die Gegenwart zu ziehen, bewies vor wenigen Jahren der Physiker Hans Lauche. Er entwickelte für die Raumsonde Cassini einen Spektral-Photometer, der zu Messungen in der Saturnatmosphäre bestimmt war. Allein es fehlte der passende Werkstoff. Monatelang wälzte Lauche die aktuelle Fachliteratur - ohne Erfolg. "Schließlich kam er hierher und fand verschiedene, zu DDR-Zeiten verfasste Fachbücher", erinnert sich Martin Weskott. Einige der Bücher waren Jahrzehnte alt. Doch sie lieferten dem Wissenschaftler die gesuchten Hinweise: Die Fertigstellung des Photometers, so bestätigte Lauch 1996 gegenüber Journalisten, sei durch den Katlenburger Bücherfund entscheidend beschleunigt" worden. Die Nachricht ging um die Welt, selbst die Londoner Times berichtete.
150 Autoren zu Gast
Neben Fachliteratur aus Bereichen wie Landwirtschaft. Medizin, Theologie und Geschichte findet sich in der Weskottschen Bücherscheune auch ein großer Bestand an Belletristik, darunter die repräsentativste Auswahl an Werken von DDR-Schriftstellern-, so Weskott. Selbst an germanistischen Instituten, so vermutet er, sei eine solche Vielfalt wohl nicht anzutreffen. Und so machte der Bücherpfarrer Katlenburg nicht nur zum Mekka der Stöberer, sondern auch zum Treffpunkt für literarisch Interessierte. 1992 startete Weskott die Veranstaltungsreihe ,.Müll-Literaten lesen" und lud Autorinnen und Autoren ein, deren Bücher er nach der Wende von den Müllhalden gerettet hatte. "Bis 2003 kamen zu diesen Lesungen 150 Schriftsteller". erzählt der Pfarrer. Auf der Liste der teilnehmenden "Müll-Literaten" finden sich unter anderem Christoph Hein, Christa Wolf, Rainer Kirsch und Volker Braun. Der lebendige Austausch zwischen Schaffenden und Rezipienten steht auch im Mittelpunkt der aktuellen Veranstaltungsreihe "Menschen und Bücher", zu der Autoren und Personen des öffentlichen Lebens nach Katlenburg eingeladen werden.